Sonntag, 21. Juli 2013

Von Traurigkeit und Dankbarkeit

Man kann nicht oft genug dankbar sein. Dankbar für alles, was man im Leben erreicht hat, für alle Menschen, die um einen herum sind. Für die Familie, für Gesundheit. Ich zum Beispiel bin jemand, der sich furchtbar gerne beschwert. Sich im Stillen voll Wonne in Selbstmitleid wälzt, weil irgendetwas nicht so läuft wie es soll. Bis ich mich umsehe und bemerke, dass es anderen noch viel schlimmer geht als mir.

Die Schwester meines Mannes hat vor einer Woche ein Baby bekommen - ein süßes, kleines, behaartes Etwas, das genauso aussieht wie sein italienischer Papa. Wir waren am selben Tag abends dort und es war alles in Ordnung. Alle waren wohlauf und haben sich gefreut. Zwei Tage später wollten wir wieder hin und haben zum Glück zuvor angerufen. Da hatte die Hebamme gerade festgestellt, dass irgendetwas nicht stimmt - ein Herzklappenfehler wurde vermutet. Der Kleine müsse sofort in die Uniklinik und operiert werden. Ein Alptraum für die Eltern. Dann kam die Nachricht, die alles verändern sollte. Es war kein Herzfehler, sondern ein Harnstoffzyklusdefekt. Der Körper produziert Ammoniak, kann es jedoch nicht in Harnstoff verwandeln. Das Ammoniak bleibt im Körper und vergiftet ihn langsam. Der Kleine konnte nicht selbstständig atmen, trinken o. Ä. Die Werte mussten nun per Dialyse sofort von 3000 auf die maximale Grenze von 300 runter. War die Stimmung an einem Tag noch voller Hoffnung, weil die Werte gesunken waren, sah es am nächsten schon wieder düster aus. Die Ärzte gaben dem Kleinen nur zwei Optionen: entweder er stirbt oder er bleibt zu 100% behindert, da sich bereits Wasser im Gehirn gesammelt hat und dieses das Gehirn beschädigt. Das ist eine sehr harte Nachricht, natürlich vor allem für die Eltern, aber auch für alle anderen. Familie und Freunde haben sich am Mittwoch zu einem kleinen Gottesdienst versammelt, der extra für den Kleinen gehalten wurde. Etwa 20 Personen, die alle mit Tränen in den Augen auf den Knien ihren Gott anflehten, dem Kleinen beizustehen. Die hochschwangere Schwägerin des Papas in Tränen aufgelöst - sie erwartet ihr zweites Kind ebenfalls in wenigen Wochen. Wie soll man denn in einer solchen Situation mit der eigenen Freude über den Nachwuchs umgehen, wenn der Bruder gerade trauert?
Seitdem wechseln sich Hochs und Tiefs ab. Nach der anfänglichen Hiobsbotschaft kam die Nachricht, dass seine Werte auf 170 gesunken sind. Dialysegeräte wurden abgeschaltet, das Beatmungsgerät ebenfalls. Der Kleine war wach und konnte sogar irgendwann in den Arm genommen werden! Ohne Dialysegerät ist der kleine Körper jedoch nach wie vor nicht in der Lage, Ammoniak abzubauen und so stiegen die Werte auch wieder auf über 700. Es ist eine schwierige Gradwanderung, der Körper akzeptiert keine dauerhafte Dialyse, daher muss sie von Zeit zu Zeit ausgeschaltet werden. Um die Werte zu ermitteln, muss man dem Kleinen Blut abnehmen. Das kann aber wiederum nicht zu häufig machen, da eine solcher Mini-Mensch nicht allzu viel davon hat und sowieso schon geschwächt ist. Jetzt gilt es nur noch zu warten. Zu warten, ob sich der Kleine dafür entscheidet, um sein Leben zu kämpfen oder ob er den Kampf verliert.

Das ist eine Zeit, in der man sich viele Gedanken macht. Am Anfang ist pure Traurigkeit. Tränen in den Augen, wenn man nur an den Kleinen denkt. Horror, wenn man ihn dort liegen sieht, voll mit Schläuchen und Kabeln. Dann versiegen die Tränen - für die meiste Zeit jedenfalls. Man fängt an, sich andere Gedanken zu machen. Was wäre gewesen, wenn es meinen Sohn getroffen hätte? Was, wenn es ihn noch treffen wird? Es ist schließlich ein Gendefekt, der vererbt wird und muss nicht zwangsläufig gleich nach der Geburt auftreten. Ist es unangebracht anzudeuten, ob die beiden ihren Arzt mal fragen könnten, ob ein Gentest auch bei uns sinnvoll wäre? Haben sie nicht gerade andere Dinge im Kopf?
Mein Mann und seine Familie haben eine etwas melodramatische Ader. Er hat sozusagen einen Whatsapp Live-Ticker zu seiner Schwester, die ihm ständig Bericht erstattet. Sobald die Werte sinken, ist er himmelhochjauchzend. Gehen sie wieder hoch, ist es eine untröstliche Katastrophe, die dumpfes Brüten hervorruft. Ich will ehrlich sein: Ich kann das nicht. Ich habe meine Tränen vergossen, jetzt heißt es nur warten. Wenn eine Tendenz deutlich wird, kann man sich die nächsten Gedanken machen. Mein Leben muss weitergehen, ich muss zur Arbeit, ich muss mich um meinen Sohn kümmern, ich muss mich um mich kümmern. Da ist kein Platz für ständige Tränen und Kopfschmerzen, sonst zieht es einen mit runter. Das bedeutet nicht, dass ich nicht mitfühle, es ist nur ein gewisser Selbstschutz.  Auch wenn es einen vagen Beigeschmack von Egoismus hinterlässt. Von Gefühllosigkeit gegenüber dem offensichtlich Traurigen. Aber auch von unendlicher Dankbarkeit, dass es meinem Sohn gut geht. Auch wenn wir dauernd erkältet sind und die Nächte durchmachen müssen, weil er nicht schlafen kann, und wir dann trotzdem um 7 Uhr aufstehen, weil die Arbeit ruft. Oder wenn er ständig quengelig ist. Oder wenn er mal wieder die Wohnung in ein Chaos verwandelt hat.
Wir haben Glück gehabt bisher und müssen dafür dankbar und glücklich sein. Wer weiß, was die Zukunft für uns bereit hält. Das gilt besonders für einen kleinen Kerl, der bereits seit  über einer Woche tapfer durchhält und sich nicht unterkriegen lässt. Er hat unser aller Tränen, Gedanken und Gebete mit auf den Weg bekommen, das muss doch funktionieren!

Alles Liebe,
Eure Babse